"Soija" oder 48 Minuten bis zum Ende aller Hoffnung

Wir steigen in das Auto, schweigend, in uns gekehrt. Fahren los. Das Handy als Navigationsgerät spinnt etwas herum, bis es uns sagt: Ankunft in 48 Minuten, gegen 11 Uhr.

 

Es ist der 17.12.2019 um kurz nach 10 Uhr morgens.

 

 

 

 

Es ist ungefähr Mitte Juli 2011, als ich mich wieder einmal in meine damalige Lieblingsbeschäftigung eingeloggt hatte: Everquest 2.

 

 

Ein Online-Rollenspiel, welches ich mit einigen meiner teils sehr Langjährigen Freunden spielte.

 

 

An diesem Tag hatte ich nicht wirklich etwas vor und erledigte einige eher unspektakuläre Aufgaben im Spiel, während ich auf das Einloggen einiger meiner Freunde wartete.

 

 

Normalerweise achte ich nicht auf den Chat, mir war aber langweilig und verfolgte daher die Wortgefechte mit halbem Auge.

 

 

Im Chat fragte eine Person namens „Soija“ nach Informationen zur Klasse des Troubadours, einer Spezialisierung der Klasse Barde. Ich selbst spielte gerade einen anderen Charakter, besaß aber eine weitere Spezialisierung des Barden, einen Klagesänger. Ich hätte also mit Informationen helfen können, verzichtete jedoch darauf, diese Person anzusprechen, es gäbe sicher kompetentere Hilfe von anderen Spielern.

 

 

Einige Stunden später flatterte mir eine Fee ( eine spielbare Rasse dieses Spieles, eine winzige Person von normaler Statur, aber dank großer Schmetterlingsflügel flugfähig ) über den Weg.

 

 

Der Name dieser weiblichen Fee war „Soija“ und ich erinnerte mich an die Frage im Chat.

 

 

Ich hatte gerade nichts anderes zu tun, flüsterte diesen Spieler als einfach einmal an: „Hast Du denn inzwischen Hilfe zum Troubadour erhalten? Wenn nicht, ich habe da einen Klagesänger, das unterscheidet sich nicht so stark, ein paar Dinge kann ich Dir sicher erklären“

 

 

 

 

 

Einige Spieler hatten sich wohl gemeldet, aber Soija war für weitere Infos dankbar.

 

 

Mir fielen an dem Spieler einige Dinge eher unangenehm auf, so war dieser in einer Gilde mit einem sehr kindischen Namen...und die Sprache war dementsprechend. Ich ordnete diese Person unter „12 und hat noch viel zu lernen“ ein, aber hatte meine Hilfe nun einmal angeboten.

 

 

Dazu wollte ich stehen.

 

 

Also loggte ich auf meinen Klagesänger um, zufällig eine männliche Fee Namens „Grintan Flattermann“.

 

 

Ich erklärte ein paar Dinge und damit war das eigentlich auch erledigt.

 

 

Aus irgendeinem, mir später nie klar werdenden Grund, flüsterte ich diesen Spieler am nächsten Tag erneut an und fragte, ob alles okay sei.

 

 

Käme noch nicht so zurecht, kam die Antwort. Die Quest ist zu schwer alleine...nun, das kannte ich gut, also bot ich einfach nochmal meine Hilfe in Form von Geleitschutz an.

 

 

Dazu wäre aber direktes Sprechen per Mikrofon und Headset sinnvoll, also schlug ich dieses vor. Soija akzeptierte...und statt eines 12 Jährigen Jungen mit wenig Anstand und noch weniger Benehmen hatte ich auf einmal eine Frau unbekannten Alters im Ohr. Diese erzählte mir dann, dass diese Gilde sie einfach aufgenommen hätte und die da alle so sprechen würden. Sie dachte, das müsste so sein. Es stellte sich heraus, das sie fast exakt 5 Jahre älter war als ich ( Unsere Geburtstage lagen nur 5 Tage auseinander ) und eine extrem nette Person mit einer extrem lauten Stimme war.

 

 

Fortan spielten wir immer wieder zusammen, sie kam in unsere Gilde und wurde auch von den anderen aus meinem Haufen akzeptiert.

 

 

 

 

 

 

 

Meine Hand liegt auf meinem linken Bein und wie gewohnt umfasst eine andere Hand diese, hält sie fest, beide ruhen auf meinem Bein. Die Fahrt ist still. Aus irgendeinem Grund springt die Zeitanzeige beim Handy nicht um, die Kilometer werden weniger, aber die Fahrzeit wird immer noch mit 48 Minuten angezeigt

 

 

 

 

 

Im Laufe der Zeit lernten wir uns immer besser kennen. Unsere beiden Feen zogen im Spiel zusammen in das gleiche Haus, wir waren praktisch nicht mehr zu trennen. Irgendwann besprachen wir dann auch einmal persönliche Dinge, welche nichts mit dem Spiel zu tun hatten. Ich erzählte ihr, dass ich keinesfalls ein Adonis sei, aus finanziellen Gründen noch bei den Eltern leben musste und sie erzählte mir von einer Scheidung und 2 Kindern, welche bei ihr leben würden.

 

 

Wir lebten ca. 120 Kilometer voneinander entfernt, was ein persönliches Treffen schwer machte. Dazu kam , das ich aus gesundheitlichen Gründen, keinen Führerschein machen konnte, ich war also alles andere als mobil. Irgendwann schlug sie mir aber vor, mich besuchen zu wollen.

 

 

Ich räumte in Windeseile meine beiden Zimmer notdürftig auf und lernte einige Stunden später die Person hinter Soija kennen. Wir verstanden uns auf Anhieb, denn offenbar war diese Frau fast noch verrückter als Ich. Wir hatten viel zu besprechen, aber wir waren uns sehr schnell sicher, das wir uns eine gemeinsame Zukunft vorstellen konnten. Nur wie diese aussehen sollte, wussten wir nicht. Letztlich machte Soija den Vorschlag, ihre Kinder zu fragen, ob ich nicht bei ihnen einziehen könnte. Ich könnte mir dort einen Job suchen und damit zu den Lebenshaltungskosten beitragen. Ein Sprung in das kalte Wasser? Ich sagte zu, wohl wissend, das ich damit einen großen Schritt machen würde. Aber ich hatte den Eindruck, diese Frau sei diesen Schritt wert.

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein Vogel zieht kurz vor dem Fahrzeug von links nach rechts über die Straße. Die Sonne scheint uns direkt entgegen und blendet auf der nassen Straße. Es muss kurz zuvor geregnet haben, die Straße war nass, die Windschutzscheibe voller Tropfen. Die Fahrt ist sehr ruhig, wir fahren im Schnitt maximal 70 Kmh. Das Handy zeigt 48 Minuten.

 

 

 

 

 

 

 

Nach meinem Einzug, der nicht ganz ohne missmutige Blicke der Kinder abging, begann meine Suche nach einem Job, um die Familienkasse nicht weiter zu belasten. Sie fuhr mich immer wieder zu Bewerbungsgesprächen, unter anderem einige Kilometer weiter zu einem kleinen Hersteller von Reinigungschemie. Ich erhielt dort einen Arbeitsvertrag, versteckte diesen aber unter meinem Hemd und tat bei ihr so, als wäre es nichts geworden. Ihr Gesicht wurde traurig, sie sagte aber dennoch „lass uns irgendwo einen Kaffee trinken gehen“, was nach meiner folgenden Präsentation meines Arbeitsvertrages natürlich deutlich fröhlicher wurde, als gedacht.

 

 

Fortan fuhr sie mich jeden Morgen vor ihrer Arbeit zur meiner Arbeit und holte mich jeden Abend ab. Sie musste des Öfteren länger draußen warten, da noch Besprechungen beim Chef beendet werden mussten oder anderweitig Probleme entstanden waren. Sie tat dies alles ohne Murren oder Klagen.

 

 

Im Laufe der Zeit arbeitete ich mich vom einfachen Vertriebsmitarbeiter zum Teamleiter hoch und verdiente den Umständen entsprechend gut. Wir mussten also nicht mehr jeden Cent 2 mal herum drehen. Die Tochter war derweil ausgezogen und mir stand beim Sohn eine Sache ins Haus, die ich noch nie in dieser Art mitgemacht hatte: Ich nahm an einem Elternsprechtag als Elternteil...nun ja...teil.

 

 

 

 

 

Eine Baustelle mit Ampel lässt uns warten.

Viel Zeit den Blick in die Ferne schweifen zu lassen.

Die Hand hält meine immer noch fest und lässt nicht los.

Es ist etwa 10.30 Uhr, aber das Handy zeigt Ankunft in 48 Minuten

 

 

 

 

 

 

 

Soija arbeitete in einer recht großen Firma die auf die Belieferung von Feinkostläden und Küchen spezialisiert war. Das Angebot war teils sehr teuer, aber entsprechend schmackhaft. Soija betreute die Postabteilung und hatte auch des öfteren mit der Liste der abgelaufenen Produkte zu tun, sprich die nicht mehr verkäuflichen Produkte. Sie hatte diesen Job sehr gerne und identifizierte sich sehr mit der Firma.

 

 

Wir befinden uns irgendwann im Jahr 2013 und ich bin für einen Kurzbesuch über das Wochenende bei meinen Eltern zuhause, Soija konnte wegen Terminen nicht mitkommen.

 

 

Am Sonntag Morgen ein Anruf einer mir unbekannten Person: Sie sei die behandelnde Ärztin meiner Lebensgefährtin und es bestünde akute Lebensgefahr. Ich solle sofort vorbei kommen.

 

 

Ich falle aus allen Wolken und weis nicht wo mir der Kopf steht. Zum Glück können meine Eltern meinen Transport organisieren und nach ewigem herumsuchen finde ich die entsprechende Station im von der Ärztin genannten Krankenhaus, welches sich ja nur über einen halben Berg und geschätzt 100 Häuser erstreckte. Ich treffe Soija, welche mir mit einer Pappschachtel Papiertücher gegenübersteht und buchstäblich nicht aufhören kann, Rotz und Wasser zu weinen. Sie hatte sich selbst einweisen lassen, nachdem sie offenbar einen heftigen Burnout erlitten hatte.

 

 

 

 

 

Mit diesem Tag änderte sich unser Leben vom unbeschwert vor sich hin werkeln hin zum Leben mit einer stetig vorhandenen Depression.

 

 

 

 

 

Soija wandelte sich von einer extrem lebensfrohen Person, mit spitzbübischen Wesen und teils sehr freizügigen Ideen hin zu einer ständig am Rande des Abgrundes stehenden leidenden Frau voller Angstzuständen und gänzlich verlorener Libido.

 

 

 

 

 

Es war für mich schwer, diesen Wandel zu verstehen und damit umzugehen. Jedoch lernten wir beide viel über Depressionen und damit zu leben.

 

 

 

 

 

Und Soija begann nach langer harter Arbeit wieder Fuß im Leben zu fassen und konnte wieder kleine Schritte voran gehen, worauf sie immer wieder stolz war.

 

 

 

 

 

 

 

Haus um Haus wandert am Autofenster vorbei, Kurve um Kurve nähern wir uns unserem Ziel. Die Strecke ist nicht lang, zieht sich aber sehr, bedingt durch viele Ortschaften und dem allgemein schlechten Straßenzustand. Das Handy beharrt weiterhin auf seine 48 Minuten.

 

 

 

 

 

Ich war in der Chemiefirma für die südlichen Länder zuständig und es eröffnete sich für mich die eventuell vorhandene Möglichkeit, eine neue Niederlassung im Süden Deutschlands zu betreuen. Ich besprach dies mit Soija ausführlich und sie entschied, einfach einmal ein Wochenende an den Ort der geplanten Niederlassung zu fahren und uns umzuschauen. Land und Leute kennenzulernen und vielleicht sich auch einmal für den Wohnungsmarkt zu interessieren.

 

 

Soija fand durchaus Gefallen an der Gegend, mir ging es da genauso. Sohnemann plante dank inzwischen angetretener Lehre ebenfalls eine eigene Wohnung, also würden wir eventuell…

 

 

Leider entschied sich der Firmenchef anders, er bräuchte jemanden mit Auto und Führerschein vor Ort. Dies traf mich hart, war ja doch seit längerem bekannt, das ich über dieses nicht verfügte, das war in bisherigen Besprechungen bezüglich der neuen Niederlassung nie ein Problem gewesen. Dennoch platzte dieser Traum leider damit. Dies nahm ich dem Chef durchaus persönlich übel und dies führte letztlich nach einigen weiteren Monaten zur Kündigung meinerseits. Tatsächlich hatte ich mir zuvor keine neue Stelle gesucht und bekam dank eigener Kündigung zuerst einmal eine Sperre von der Agentur für Arbeit. Es begann eine Zeit, in der ich Soija weniger eine Hilfe, als eher eine Belastung wurde, was das Finanzielle und sicherlich auch das Soziale anging. Als ich dies endlich realisierte, nahm ich den erst-besten Job an, den ich von zuhause ausführen konnte und wurde Support bei einem Dienstleister von Apple. Unsere finanzielle Situation entspannte sich ein wenig

 

 

 

 

 

 

 

Durch die Kurven wird mir leicht schwindelig, ich versuche aber, dies zu ignorieren.

Ich konnte das Autofahren noch nie wirklich vertragen.

Es ist nicht mehr weit, auch wenn das Handy starr auf seine 48 Minuten besteht.

 

 

 

 

 

 

 

Die Stelle war recht anstrengend, aber durch meinen beruflichen Werdegang lag sie mir. Uns ging es zumindest finanziell gesehen, relativ gut. Wir konnten durch hohe Nebenkosten keine Rücklagen bilden, aber wir kamen zurecht. Leider bekam ich Soija nicht mehr dazu, einmal spazieren zu fahren, ins Kino zu gehen oder sonst eine Freizeitaktivität nachzugehen. Lediglich schwimmen waren wir einige Male und das war sehr schön. Generell war es schwierig geworden, Soija dazu zu bringen, das Haus zu verlassen. Sie wollte einfach nicht, bevorzugte ihre Ruhe in der gemieteten Wohnung.

 

 

Leider hatten die Nachbarn über uns vor einigen Jahren 2 Kinder bekommen und diese schienen ihren Lebensinhalt inzwischen darin zu sehen, einer Herde Elefanten Konkurrenz zu machen. Sie machten einen Höllenkrach, was uns auf Dauer schwer belastete.

 

 

In dieser Zeit fand ich durch irgendwelche Umstände einen Makler, welcher billig Häuser ersteigerte, um diese dann mit Gewinn per Mietkauf an andere Leute abzustoßen. Eines dieser Häuser wollten wir uns einmal anschauen, da es finanziell sinnvoll klang, aber leider einen relativ weiten Fahrweg für Soija zur Arbeit bedeuten würde.

 

 

Letztlich entschieden wir uns gegen dieses Angebot, aber der Makler hatte an dem gleichen Tag ein weiteres Haus ersteigert, welches er mir direkt anbot. Wir vereinbarten einen Termin und er hinterlegte den Schlüssel, da er in dieser Zeit außer Landes war. Soija und ich kämpften uns daraufhin durch einen Urwald, welcher durch 10 Jahre Leerstand enorme Ausmaße angenommen hatte. Praktisch das ganze Haus war von einer Art Wein überwuchert und eingesponnen. Uns gefiel es auf Anhieb und nach einigen Verhandlungen schlossen wir den Vertrag ab. Ein Umzug stand also an

 

 

 

 

 

 

Wir sind fast da, befinden uns schon in der Stadt. Ampel um Ampel hält uns auf, Fußgänger und andere Autofahrer scheinen uns geradezu feindlich gesinnt, die einen drängeln, die anderen blockieren den Weg. Das Handy weigert sich strikt, die 48 Minuten Fahrzeit zu reduzieren.

 

 

 

 

 

Viel Arbeit lag vor uns. Viele Tage leben aus Kartons, viele Enttäuschungen wegen Wasserschäden, die durch den langen Lehrstand und harte Winter entstanden waren. Die Tanks der Heizung mussten ersetzt, eine durch die Feuchtigkeit eingestürzte Decke gestützt werden. Aber wir waren zufrieden und glücklich in unserem eigenen kleinen Haus. Leider hatte die Arbeit auf mich selbst zunehmend Auswirkungen, die letztlich dazu führten, das Soija mich einmal mit zu ihrem Psychologen nahm, dieser solle mich einmal untersuchen.

 

 

Dort saß ich dann vor ihm…und dieser zog mich gleich aus dem Verkehr. Klinik und anschließend Reha war geplant.

 

 

Ich machte mir Sorgen, ob Soija alleine zurecht kommen würde, aber…das klappte sehr gut. Ihr Zustand war stabil, wir hatten uns eine Routine des gemeinsamen Einkaufens eingeübt, die uns genug Luft zum atmen ließ und den Stress so niedrig wie möglich hielt.

 

 

Sie hatte Spass an den kleinen Dingen gefunden, wie dem restaurieren einer alten Tür in unserem Haus, das abklopfen einer Wand und freilegen der Bruchsteine darunter oder dem abkratzen von Farbe und Kleberesten eines schönen Kieferbohlenbodens, welcher mit unsäglichem Teppich bedeckt und zugeklebt worden war.

 

 

 

 

 

 

Wir biegen in das Parkhaus ein. Finden einen Platz und halten an. Steigen still aus und begeben uns zum Aufzug, welcher uns in den 2. Stock bringt. Ich bin leicht erkältet und lasse mir daher eine Papiermaske geben. Dann gehen wir über den Gang bis wir an das Zimmer kommen

 

 

 

 

 

 

Nach meinem 6-wöchigen Aufenthalt in der Reha, dem ein Jahr später ein zweiter in der gleichen Einrichtung folgen sollte, kam ich zur Ruhe. Ich war weiterhin Arbeitsunfähig geschrieben und wir genossen die Zeit gemeinsam, vor allem, da Stück für Stück die Baustellen im Haus weniger wurden.

 

 

Jedoch musste unbedingt das Dach repariert werden. Wir versuchten, dafür das Geld zusammen zu bekommen. Im April des Jahres 2019 verstarb meine Mutter. Das mich-kümmern-müssen um Soija half mir dabei, mich abzulenken, so dass ich mit dem Tod besser klar kam, als ich erwartet hätte.

 

 

Ich bekam von meiner Arbeit auch noch einen Bonus ausgezahlt, der, mit der inzwischen eingereichten Arbeitsunfähigkeitsrente von Soija zusammen für das Dach reichen müsste.

 

 

Das Schicksal ist ein unberechenbares Wesen.

 

 

Soija hatte 2 oder 3 Wochen zuvor sehr stark unter Kopfschmerzen geklagt, welche sich lange hinzogen und auch nicht besser wurden.

 

 

Wir besuchten daraufhin einige Krankenhäuser, damit ihr Kopf untersucht, durchleuchtet und vermessen werden kann.

 

 

 

 

 

 

Im Zimmer liegt sie. Ein Schlauch im Mund, ein Verband um den Kopf. Eine Beatmungsmaschine läuft. Eine Schwester ist da und auch der Oberarzt. „Es ist Zeit“ sagt er und sein Blick ist weit weniger distanziert, wie man vielleicht von jemandem mit diesem Beruf erwarten würde

 

 

 

 

 

 

Es stellt sich bei den Untersuchungen heraus, das Soija wohl einige Wochen zuvor einen leichten Schlaganfall erlitten hatte, daher kamen auch die Kopfschmerzen. Um das Risiko zu minimieren bekam sie dann Blutverdünner und sie sollte sich schonen. Wir atmeten auf.

 

 

Am nächsten Morgen war ich früher wach als gewöhnlich und ging schon einmal runter in die Küche, um mir einen Kaffee zu machen. Es dauerte auch nicht lange, bis Soija ebenfalls zur Türe herein kam, gekleidet in einem Strickponcho, in der linken Hand den neu erworbenen Verdampfer und in der rechten ihr Tablet, auf dem sie immer Spiele spielte. Auf einmal blieb sie stehen und das Tablett fiel ihr aus der Hand auf den Fliesenboden der Küche. Ich lachte und sagte zu ihr „hast Du es endlich kaputt bekommen?“ weil wir ständig darüber gewitzelt hatten, wer zuerst sein Handy oder etwas anderes auf den überall in der unteren Etage befindlichen Fliesenboden fallen lässt.

 

 

Dann fiel der Verdampfer hinterher und ihr Gesichtsausdruck wandelte sich zu einem schwer deutbaren, fast verblüfften Ausdruck. Ich sprang auf und umfasste sie…sie wurde steif und torkelte, begann nach Atem zu ringen und zu husten.

 

 

Ich setzte sie auf die Couch, suchte nach einem Tuch und brachte ihr ihren Asthmapuster, den wir immer im Kühlschrank aufbewahrten. Dieser brachte aber keine Besserung. Ich griff zum Telefon und rief den Notruf an…erzählte von einem eventuellen Schlaganfall.

 

 

Die folgenden Minuten waren ein Sammelsurium von Hilflosigkeit und Angst angesichts eines nach Luft röchelnden geliebten Menschen, dem man nicht helfen kann.

 

 

Die Sanitäter kamen endlich an und gleich mit 5 Leuten herein. Und begannen irgendwas zu machen und irgendwas zu sagen und irgendwas zu murmeln. Ich kann bei meinem Leben nicht mehr sagen was. Irgendwann packten sie Soija dann auf eine Trage. Und sie saß dort, mit einem ausgestreckten Arm und starrte nur leer in die Ferne.

 

 

Ihre Brille lag noch auf dem Tisch und ich trug sie einem der Sanitäter hinterher „die braucht sie nicht mehr“

 

 

Wenn ich eines über Schlaganfälle weis dann, das es auf jede Sekunde ankommt. Daher verstand ich nicht, warum die Sanitäter noch 45 Minuten im Auto auf der Straße irgendwas machten, anstatt wegzufahren. Ich stand da…im T-Shirt im Regen. Ohne Informationen und ohne Ahnung, was ich jetzt machen soll. Dann rief mich einer der Sanitäter zu sich, sie würden jetzt nach Kaiserslautern ins Krankenhaus fahren. Noch einmal 45 Minuten? Ich war verwirrt und konnte dem Auto mit seinem Blaulicht nur beim weg fahren zusehen.

 

 

Die nächsten Tage waren für mich nur wirre Bilder von Besuchen im Krankenhaus, Diskussionen mit Ärzten, Schwestern, Behörden.

 

 

 

 

 

 

 

 

Viele Untersuchungen hat Soija über sich ergehen lassen müssen. Und unter dem dicken Verband um ihren Kopf verbirgt sich eine riesige Öffnung, die für die Druckminderung auf das Gehirn nötig war. Leider vergeblich.

 

 

Wie uns der Oberarzt erklärte, führte der Blutverdünner, den sie wegen dem alten Schlaganfall bekam dazu, das Blutgerinsel sich lösten…wovon zwei zeitgleich eine Hirn- und eine Lungenarterie verstopften. Die Sanitäter hatten die Wahl. Soijas Hirn zu retten und sie dabei ersticken zu lassen, oder die Luftzufuhr zu sichern und dabei den Hirntod zu riskieren.

 

 

Sie entschieden sich für letzteres. Es bestand kurzzeitig Hoffnung, als ein Hustenreflex einsetzte…aber diese Hoffnung erfüllte sich leider nicht.

 

 

 

 

 

 

 

Der Oberarzt geht in den Nebenraum. Und wenige Augenblicke später schalten sich die Maschinen ab. Das Gerät, welches den Herzschlag anzeigt, beginnt zu warnen, da dieser stetig schwächer wird. Dann hört er auf. Und das infernalische Piepen, das jeder aus diversen Arztserien kennt, lässt keinen Zweifel daran, das die Welt einen guten Menschen verloren hat.

 

Zu früh…unverdient…unnötig…

 

Ein letzter Kuss auf erkaltende Lippen ist das letzte, was mir bleibt. Danach verlassen wir die Klinik. Setzen uns wieder in das Auto. Und eine Hand greift wieder die meine. Umfasst sie, bleibt auf meinem Knie liegen. So wie in den letzten 10 Jahren. Aber es ist nicht Soijas Hand, sondern die tröstende Hand ihrer Tochter.

 

Und die Verkehrsapp auf meinem Handy zeigt die Fahrzeit zurück nach Hause an. Erst 48 Minuten. Dann 47…dann 46.

 

 

 

 

Ich habe nie erfahren, warum diese ausgerechnet auf der Hinfahrt ins Krankenhaus, zu Soijas letztem Augenblick, die Zeit nicht weiterzählen wollte. Vielleicht erkannte die App, das keiner von uns diese Fahrt unternehmen wollte. Wir wollten uns weigern, aber das Leben nimmt keine Rücksicht auf die Wünsche Einzelner

 

 

 

 

 

 

 

 

Auf einem Waldfriedhof in der Nähe von Soijas Geburtsort steht ein schöner Baum. An diesem befindet sich eine Plakette mit ihrem Namen, ihrem Geburts- und ihrem Todestag

 

 

 

 

 

 

 

 

Aber ihr Lachen, ihre Witze, ihre Launen, ihre Tränen, ihre Meinungen, ihre guten und ihre schlechten Seiten. Diese alle werde ich nie wieder erleben.

 

 

 

 

 

Dafür bleibt mir die Angst, nicht alles Mögliche unternommen zu haben sie zu retten, sie nicht genug geschätzt, geliebt, behütet zu haben

 

 

 

 

 

Auch wenn mir mein Verstand etwas anderes sagt, diese Angst bleibt und macht mich traurig. War ich diese wundervolle Person wert? Ich hoffe es. Und diese kleine Seite soll wenigstens dafür sorgen, das sie nicht vergessen wird.

 

 

 

 

Meine kleine Fee

 

Mein Schatz

 

Meine Soija

 

 

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